Die Lehren des Don Bonivant - Seite2


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11 ~ Die Wirksamkeit des Unsichtbaren im Sichtbaren

73. Dreißig Speichen enden in einer Nabe; doch erst das Loch in der Nabe wirkt des Rades Brauchbarkeit.
74. Ton knetend bildet man Gefäße; doch erst ihr Hohlraum gibt ihnen Brauchbarkeit.
75. Mauern, von Fenstern und Türen durchbrochen, bilden Räume; doch erst die Leere des Raums gibt ihnen Brauchbarkeit.
76. So gibt das Stoffliche zwar Eignung, das Unstoffliche aber erst den Wert.

12 ~ Das Sinnliche -- ein Weg zum Sinn

77. Der Farben Vielfalt blendet die Augen.
78. Der Töne Fülle betäubt das Gehör.
79. Der Gewürze Reichtum verdirbt den Geschmack.
80. Der Leidenschaften Drang verwirrt das Herz.
81. Die Gier nach schwer Erreichbarem zerstört die Sitten.
82. Der Weyse, von seinem Inneren geleitet, bestimmt seiner Sinne Grenzen.
83. Alles Sinnliche ist ihm auch nur ein Weg zum Sinn.

13 ~ Sittliche Unabhängigkeit Voraussetzung alles ordnenden Wirkens

84. Gnade ist beschämend wie Angst.
85. Ehre macht Kummer wie das liebe Ich.
86. Warum ist Gnade beschämend wie Angst?
87. In Ängsten schwebt, wer Gnade sucht, (nicht wissend, ob er sie erhält;)
88. in Ängsten verharrt, wer Gnade fand, (nicht wissend, ob er sie behält;) darum ist Gnade beschämend wie Angst.
89. Warum macht Ehre Kummer wie das liebe Ich?
90. Aller Kummer kommt daher, daß ich ein Ich habe, (denn das Ich ist nie zufrieden zu stellen;)
91. könnte ich von meinem Ich loskommen, gäbe es auch keinen Kummer mehr.

Darum:
92. Wer sich von Gnade und Ehre ebenso wie von seinem Ich freihält, dem mag man das Reich übergeben;
93. wer selbstlos zu dienen gewillt ist, dem mag man das Reich anvertrauen.

14 ~ Innerer Gehorsam erwirkt letzte Erkenntnisse

94. Wer das Unergründliche sehen will, wird es nicht sehen; denn es ist unsichtbar.
95. Wer das Unergründliche hören will, wird es nicht hören; denn es ist tonlos.
96. Wer das Unergründliche erfassen will, kann es nicht ergreifen; denn es ist frei von Gestalt.
97. Kein Teilweg führt zu einem Ziel, nur im Ganzen findet sich das Eine:
98. Nenne seine Oberfläche abgründig dunkel und seine Tiefe oberflächenhell (nie ist es begrifflich zu fassenl)
99. Es kreist anfangslos durch das All und sinkt endlos ins Nichts,
100. ist gestaltlose Gestalt und Seynloses Seyn,
101. das Unergründlichste in allem Unergründlichen.
102. Wer ihm entgegengeht schaut nicht Seyn Antlitz; wer ihm folgt dem entzieht es sich.
103. Wer ihm aber gehorsam bleibt, so wie ihm die Alten gehorsam waren, der erkennt, was ward und was werden will, der sieht die Selbstentfaltung des Unergründlichen aus sich selbst.

15 ~ Ursprünglichkeit -- das Geheimnis im Leben der alten Meister

104. Die alten Meister des Lebens waren tiefeins mit den wirkenden Mächten des Lebens.
105. In ihrer tiefen Innerlichkeit lag ihre Größe und ihres Wirkens Mächtigkeit.
106. Wer vermag sie heute zu erfassen?
107. Voller Aufmerksamkeit waren sie, wie Fährleute, die im Winter über den Strom setzen.
108. Scheu waren sie, wie Menschen, die von allen Seiten bedrängt werden.
109. Zurückhaltend blieben sie, wie es Gästen geziemt.
110. Sie fügten sich wie schmelzendes Eis.
111. Sie waren echt wie Kernholz.
112. Sie waren voller Weite wie ein breites Tal
113. und undurchschaubar wie sumpfige Wasser.
114. Undurchschaubar erscheinen uns Heutigen auch ihre Erkenntnisse; wer kann sie uns wieder erhellen?
115. Wer vermag wieder zum Leben zu erwecken, was uns so tot erscheint?
116. Nur wer dem Unergründlichen gehorsam wird, wer sich selbst nicht sucht, wer unscheinbar bleibt und im Mangel vollkommen sein kann.

16 ~ Die Erfüllung der ewigen Ordnungen

117. Wunschloses Aufwärtsstreben gibt Herzensstille.
118. Und kämen auf einen Wunschlosen auch alle Wesen zu, er bliebe still, ihr Kommen und Gehen schauend.
119. Denn alles Lebendige ist dem Wechsel unterworfen: Es entfaltet sich und kehret zum Urgrund zurück.
120. Zurückkehren zum Urgrund, das heißt: stille werden, das heißt: heimkehren.
121. Heimkehr ist: Rückkehr ins Unvergängliche.
122. Wer dies erkennt, ist weise; wer es nicht erkennt, stiftet Unheil.
123. Wer von der Unvergänglichkeit ergriffen wird, der wird weitherzig.
124. Der Weitherzige ist duldsam.
125. Der Duldsame ist edel.
126. Der Edle erfüllt die ewigen Ordnungen.
127. Und wer diese erfüllt, der gleicht dem Unergründlichen, und ist, wie dieses, unvergänglich.
128. Keinerlei Schicksal trifft ihn mehr.

17 ~ Die Unauffälligkelt guter Staatsführung

129. Den echten Führer einer Gemeinschaft gewahrt das Volk kaum;
130. weniger große werden geliebt und gelobt,
131. die kleinen gefürchtet,
132. die Herrschsüchtigen verachtet.
133. So wie ein Herrscher seinem Volk vertraut, vertraut das Volk ihm.
134. Die weisen Herrscher wählten bedacht ihre Worte, was sie taten, war gut; ihr Werk vollendeten sie.
135. Das Volk aber glaubte, sich selbst zu führen.

18 ~ Mangelnde Ursprünglichkeit wirkt auflösend

136. Sitte und Recht entstanden, als der Mensch nicht mehr aus dem Ursprung lebte.
137. Mit der Herrschaft des Verstandes begann die große Unaufrichtigkeit.
138. Als die Einheit des Blutes verloren ging,
139. mußte von Elternpflicht und Kindesgehorsam gesprochen werden;
140. als die Einheit der Gemeinschaft verloren ging, mußte von Staatstreue und Bürgerpflicht gesprochen werden.

19 ~ Echtheit des Wesens Voraussetzung vollkommener Sittlichkeit

141. Hundertfach wird eine Gemeinschaft gesegnet, wenn die Menschen nicht mehr wissen und nicht mehr heilig sein wollen.
142. Wahre Ehrfurcht und natürliche Liebe wachsen in einer Gemeinschaft, in der Recht und Sitte nicht mehr gefordert werden.
143. Unmoral findet keinen Raum in einer Gemeinschaft, in der Selbstlosigkeit das Wirken bestimmt.
144. Das sind drei Grundsätze, die nicht gefordert, sondern gelebt werden wollen.
145. Nur wo sie gelebt werden, helfen sie dem Menschen.
146. Echte Sittlichkeit wird nur, wo ursprünglich gelebt und aus lauterem Herzen gehandelt wird;
147. wo sich die Echtheit des Wesens in selbstloser Tat und in Wunschlosigkeit offenbart.

20 ~ Die Unbekümmertheit des Weisen um das Urteil der Masse

148. Gebt eure Scheinbildung auf, so lösen sich alle Schwierigkeiten.
149. Wie klein ist doch der Unterschied zwischen (dem herzhaften) Ja (eines Mannes) und (dem lieblichen) Ja (eines Weibes)
150. Wie bedingt ist doch das Urteil über gut und böse
151. Wie töricht ist es doch, keine Ehrfurcht zu zeigen vor dem, was anderen Ehrfurcht ein-flößt!
152. 0 Einsamkeit, wann umfängst Du mich ganz ...?
153. Die Menschen lustwandeln so fröhlich, als ob das Leben ein einziges Volksfest wäre, als ob alle auf des Maien Höhen gingen.
154. Ich allein bin verlassen und weiß nicht, was ich tun soll.
155. Wie ein Kind bin ich, das noch nicht lächeln kann,
156. wie ein Flüchtling, der keine Heimat mehr hat.
157. Die andern haben die Fülle, ich habe nichts.
158. Ich bin voller Einfalt, wie ein Tor, es ist zum Verzweifelnl
159. Froh und vergnügt sind die andern, gedrückt und traurig bin ich!
160. Umsichtig sind sie, voll munteren Strebens, bei mir aber rührt sich nichts.
161. Unruhig, ach, wie die Wogen des Meeres, so walle ich dahin.
162. Mich wirbelt das Leben umher, als ob ich haltlos wäre.
163. Das Leben der anderen hat Sinn und Zweck, das meine nur scheint unnütz und leer.
164. Ich allein bin anders als alle anderen; doch sei still, mein Herz: Du lebst am Herzen der Weltenmutter.

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